Video
Collider ist von dem leistungsstärken Teilchenbeschleuniger der Welt, dem Large Hadron Collider (LHC) im CERN in Genf inspiriert. Die Kollision der Teilchen im Inneren des LHC wird musikalisch von der Energie, die durch die ständige Bewegung und Vermischung von Attacken und Pulsationen sowie eine sich beschleunigende Entwicklung widergespiegelt. (Vasilikí Krimitzá)
ROAI V [midi ballade]
Seit fast zehn Jahren fasziniert mich der Heraklitische Satz „Ta panta rei“ („alles fließt“), der als Inspirationsquelle für meinen Kammermusikzyklus ROAI dient. Bewegte Statik sowie ständige Permutation treffen sich in diesem kurzen Satz und reflektieren soziologische, biologische oder physikalische Mikro- und Makroformen. Kurz: sie reflektieren das Leben selbst! Nach einer Darstellung der Mehrdeutigkeit des Fließens in den vorherigen Werken des Zyklus wird die Idee des Fließens nun auf den Raum erweitert, indem die Klänge quasi von der Bühne aus gesteuert werden und sich in den realen Raum hineinbewegen. Die Formation Trio wird gesprengt und neu formiert. Viola und Bassklarinette sitzen rechts und links hinter dem Publikum und empfangen die Signale, die das Klavier von der Bühne aussendet. Das Prinzip der Ballade (einer Erzählung, die im Kreis von mehreren Personen nach einem Ballwurf weitererzählt wird) und der MIDI-Technologie verschmelzen ineinander. Bestimmte musikalische Ereignisse sind der Klaviertastatur zugeordnet und werden während des Spiels auf der Tastatur quasi „ein- und ausgeschaltet“, indem sie von den zwei Instrumenten hinter dem Publikum ausgeführt werden, die zwei Lautsprechern gleichen. Dabei entsteht ein im räumlichen Sinne interaktives, fließendes Trio, das einen Sampler zu imitieren versucht. (Minas Borboudakis)
"a fuoco lento („auf leiser Flamme“) ist für ein Konzert im Kontext der Haute Cuisine entstanden. Während der teilweise erheiternden Suche nach musikalischen Bezugspunkten zur Kochkunst stieß ich auf ein Kochbuch mit dem Namen nimm 3. „Das Wichtigste ist zunächst, dass die drei Hauptdarsteller Ihrer Gerichte richtig gut harmonieren. Dabei dürfen Sie sich allerdings auch nicht zu ähnlich sein, um gut zueinander zu passen, wie wahrscheinlich jeder aus seinem eigenen Beziehungsleben weiß. [...] Schaffen Sie aus einer normalen Zutatenbeziehung ein Dreiecksverhältnis: Huhn und Rucola ist in Ordnung, wird aber erst mit Zitrone richtig spannend.“
Beschränkung auf wenige charakteristische Elemente – ich ließ mich dazu anregen, mit wenigen skelettartig exponierten Ereignissen bzw. Situationen zu beginnen. Mit dem Köcheln (a fuoco lento) geraten die Dinge allmählich in Bewegung. Sie verändern Farbe und Konsistenz, entfalten Düfte, gehen Verbindungen ein, verschmelzen." (Karin Haußmann)
Or would you rather just dance? Well, don't let me stop you.
In ihrem Werk hält Kristine Tjøgersen die hohe choreografierte Energie der Bollywood-Tanznummer Jaan Pehechaan Ho aus dem Film Gumnaam, 1965, fest. Der maskierte Mann in dem Video ist der berühmte Tänzer und Choreograph Herman Benjamin, auch als „Mr. Charisma“ bekannt. Benjamin wurde vom amerikanischen Rock'n'Roll-Tanz wie Lindy Hop und Jitterbug beeinflusst und mischte ihn mit traditionelleren indischen Tanzroutinen. In dem Stück übersetzt Tjøgersen die Bewegungen der Tänzer in musikalische Gesten, die ihre einzigartigen Stile und Bewegungen betonen. Dinge, die man oft übersieht, werden durch den Dialog zwischen Musik und Film hervorgehoben. Damit will sie das Mischen verschiedener Stile auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen fortsetzen.
Die Cyanotypie ist ein fotografisches Druckverfahren, bei dem Blautöne auf dem Negativ aus Ferrocyanid (Verbindung von Blausäuresalzen und Eisen) erzeugt werden. Das so genannte „Berliner Blau“, das vor 300 Jahren die (Kunst-)Welt eroberte, ist ein bekanntes Beispiel dafür.
In gewisser Weise ist das Komponieren auch ein Prozess des Druckens – in Soto Mayorgas Werk der „Abdruck“ des Sonettenkranzes „Das Schmetterlingstal. Ein Requiem“ der dänischen Dichterin Inger Christensen. Der Komponist arbeitet hier mit Metaphern aus Sonetten-Zeilen wie „Ist es die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit, zersplittert wie in zeitverschobenen Blitzen?" und durch Übertragung von Zahlenreihen der Verse, Silben und Buchstaben auf verschiedene Pulse und Taktarten des Stücks.
Soto Mayorgas Interesse gilt dabei diesem „farbigen Staub", wie Christensen ihre Schmetterlinge nennt, und dem giftigen Cyanidoxid der Cyanotypie, aus dem er, nach seinen Worten, „eine Narbe aus Farbe und Licht aus der Haut der Erinnerung herauszuschneiden versuche. Aber ihr Licht strahlt nicht, und ihre Farbe ist farblos. Es ist eine Erinnerung, die sich an sich selbst erinnert. Ein schlafender Fluss, der von seinem Fluss träumt." „Ich höre wohl, dass du mich niemand nennst", schreibt Inger Christensen, und in dieser Anonymität ist der Komponist aufgerufen, sich „als Bläuling, Harlekin, Eimerfalter oder Kaisermantel“ vorzustellen. (Wolfgang Rüdiger)
encuentros casuales („zufällige Treffen“)
An irgendeinem Punkt eines Lebens passiert ein zufälliges Treffen mit irgendeinem Punkt eines anderen Lebens; da passiert ein Akkord, der völlig stimmt. Wo kommen diese Linien/Leben her? Wo gehen sie hin? Wie würden sie möglicherweise – in Unabhängigkeit – zusammenklingen vor und nach diesen Treffpunkten? Was war dann Zufall: das Treffen selbst oder was vor und danach passiert?
Dieses Stück ist auch eine Hommage an Eric Dolphy und stark geprägt von dem Abschiedslied So long, Eric, das sein Freund Charles Mingus komponierte, als Dolphy nach einer gemeinsamen Tournee in Europa blieb. (Vladimir Guicheff Bogacz)
weit - weiter - am weitesten? - weiter oder enger? - oder weiter voran? Das titelgebende Wort kann je nach Zusammenhang mehrere Bedeutungen haben. Wie auch immer: es ist vor allem der Zustand des Unsteten, des Flüchtigen, des dort-wo-man-ist-nicht-sein-wollens, der diese Komposition bestimmt und dem die 11 Musiker ausgesetzt sind. (Ralf Hoyer)
Ich näherte mich dem Stück über die Vorstellung, wie Gedanken durch verschiedene emotionale und mentale Zustände fließen, die eine Verfeinerung von Denk- und Verhaltensweisen sowie Intensitäten einschließen. Ein passender Vergleich wäre die Situation der Bewegungslähmung im Schlaf, bei der man im Traum versucht zu schreien, aber kurz vor dem Aufwachen merkt, trotz intensiven Gefühls nur sehr schwache oder gar keine Laute von sich gegeben zu haben.
Das Stück weist an einigen Stellen eine verschwommene, zittrige und manchmal brüchige Klangsprache auf. So sehr es auch meine eigenen Kämpfe widerspiegelt, so beabsichtigt es auch, von gemeinsamer Furcht, Misstrauen und stimmlosen Rufen von Menschen zu sprechen, die keine Mittel und Macht haben, gehört zu werden. (Feliz Anne Reyes Macahis )
De Profundis – Aus den Tiefen rufe ich Herr zu Dir (Psalm 130). Aus den tiefsten Tönen von Fagott und Baßklarinette steigt Musik in die Höhe, will den Kerker des Dunkels verlassen und sich ins Licht aufschwingen, zerbricht in schroffen Mehrklängen des Fagotts, hallt wider in zarten Zweiklängen der Baßklarinette, wird attackiert von unerbittlichen Rhythmen der großen Trommel. Die Instrumente schreien auf, klagen, suchen zweifelnd ihren Weg - miteinander/gegeneinander - und stimmen einen Gesang der Sehnsucht und Hoffnung an. (Wolfgang Motz)
Werkkommentar des Komponisten:
"Alles fing mit dem Wellnessgedanken an. Aber die Musik dieser CDs war so grottenschlecht, dass es mir nicht möglich war, sie irgendwo zu benützen. Daraus wurde dann der Gedanke eines Konzerts im Sinne der späteren Praetorius-Definition des Streitens und Kontrastierens. Ein Solokonzert werde ich nie in meinem Leben schreiben, aber ein Konzert mit naturmodulierten Soli sagte mir zu. Die bekannten Fermaten Nonos waren als Öffnungen für Unerhörtes konzipiert, z. B. „colori“!! Sie sind jedoch in sich widerspruchsfrei gedacht. Bei mir spielen die Soli die Rolle von Fragmenten eigener Art, nämlich mit ihren innewohnenden Paradoxa. Auch der „Doppelgänger“ (Heine/Schubert) ist ein Paradox. Und wenn im „Konzert“ Heidi Klum den „Doppelgänger“ trifft, wird das Paradox selbst zum Paradox. Dialektischer Widerspruch als Paradox regt zum Grübeln an. Natur erfahren wir schon lange als Schönheit im Urlaub, als Katastrophenlieferant. Tsunamis, Unglücke, Explosionen verdinglichen zur bloßen medialen Aufregung, unsere Geschichte verflüchtigt sich zum medialen Warten auf Ereignisse. Solche Sinnenteleskopeinstellungen, sozusagen im unaufhörlichen Wartezustand, reduzieren unsere Sinne zu einer Art Situationismus. Seifenopern, Serien orientieren sich am Ereignis, spielen mit kalkulierten Paradoxa. Telenovelas immerhin haben angeblich einen „magic moment“, dem sie trotz ihrer Unendlichkeit als Serie doch eine gewisse Abgeschlossenheit verdanken. Gegen Ende vom „Konzert“ gibt es 7 Dramoletts. Da kann auch das Internet als Vorbereitungsquelle herangezogen werden.
Die klassische Physik repräsentiert die Alltagserfahrung unserer Sinne. Marx hat viel nachgedacht über die Vereinfachungen und Reichtümer unserer Sinne auf Grund ihrer Austauschmöglichkeit mit der Gesellschaft. Aber das war für unser praktisches Leben schon zu kompliziert! Die Quantenphysik als Objektbereich ideologiefreier(! / ?) Naturforschung kann den Soli etwas Zusätzliches aufmodulieren, nämlich z.B. die Nichtlokalität oder dass die Gegenwart (der musikalische Augenblick) eine Mischung aller denkbaren Vergangenheiten ist, die mit dem, was wir jetzt hören, kompatibel sind. Die Illusion eines uns Hörern möglichen Wahrscheinlichkeitsbildes der Vergangenheit unterstützt ein doppeltes Bracket-System des Wiederbringens von Vergangenem als wäre es noch gar nicht dagewesen. Die anvisierte Möglichkeit des Einsetzens eines mit punktförmiger Treffsicherheit arbeitenden Audio Beamers vereinzelt nicht nur den Hörer ausschnittartig und blitzartig, sondern ist mit seinem Vergangenheit-Skanner-Inhalt ein „Doppelgänger besonderer Art: Ihn trifft nicht Heidi Klum, er trifft Sie, lieber Hörer!"
Nicolaus A. Huber (2008)
Wolfgang Rüdiger über "Konzert für naturmodulierte Soli und Ensemble":
"Das Konzert... ist ziemlich vielschichtig und unheimlich klangsinnlich komponiert. Es enthält mehrere Zuspiele und einen Audio-Beamer, menschliche Satire-Szenen, „magische Momente" u. v. m. und thematisiert in harmonischer wie inhaltlicher Orientierung an Heine/Schuberts Lied Der Doppelgänger Fragen der Identität von Mensch und Natur im Medienzeitalter. Es beginnt mit einem Elefantenschrei (im Tonumfang von g bis es!), und nach Wiederholungen, quantenharmonischen Entwicklungen von Soli- und Tutti-Passagen mit nie gehörten Super-Akkorden und Ansage der Pianistin („Der Mond zeigt ihm seine eigne Gestalt") feuern im Lichte eines Mondlampions Heidi-Klum-manipulierte „Mädchen" Schuberts Doppelgänger zur doppelten Verbiegung, Verwirrung, Verkrampfung an („Naturmodulation" at its worst); Mienenspiele imitieren Telenovelas, und am Ende öffnet ein knalliges Kinderaggressionsfußball den Konzertsaal zur Straße – wie umgekehrt der von der Straße her gedachte (und beklemmend aktuelle) Text des Schubert-Liedes Ohren, Augen und Herzen für die Musik öffnen mag:
Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen,
In diesem Hause wohnte mein Schatz;
Sie hat schon längst die Stadt verlassen,
Doch steht noch das Haus auf demselben Platz.
Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe,
Und ringt die Hände, vor Schmerzensgewalt;
Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe, –
Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.
Du Doppeltgänger! du bleicher Geselle!
Was äffst du nach mein Liebesleid,
Das mich gequält auf dieser Stelle,
So manche Nacht, in alter Zeit?
Vor diesem Hintergrund inszeniert Hubers Konzert ästhetische Paradoxa in Fülle und Potenz und ist selber eins: das Paradox einer „Geschlossene(n) Öffnung" von Kunst, die die Scheinhaftigkeit von Kunst abzustreifen versucht und darin doch Kunst bleibt. Zeigt sich dadurch auch Wirklichkeit, zumal die unsere, als eine ungewisse, bodenlose, brodelnde – voller Fremdheit, Andersheit in Wellen von Unsicherheiten ohne Ende?"
Ausführlicher in:
Rüdiger, Wolfgang: Komponierte Paradoxa und Konfrontationen mit sich selbst. Nicolaus A. Hubers „Konzert für naturmodulierte Soli und Ensemble“ (2008) als „art totale instrumentale“, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 124-152.
Wechselwirkungen von Harmonik und Melodik untersucht Eres Holz in Kataklothes. Das altgriechische Wort bedeutet „Zuspinnerinnen“ und kommt in Homers Odyssee als Bezeichnung für die drei Moiren oder Schicksalsgöttinen vor, die den Lebensfaden für den Menschen knüpfen. Das Bild ist passend für die Komposition, in der Holz als durchgehenden Faden eine Verkettung harmonischer Sequenzen erstellt. Sobald sich die Harmoniefolgen des fließenden Stimmverlaufs etabliert haben, setzen Verschiebungen ein, der Verlauf wird rhythmisch komplexer, spielerischer und belebter.
Nach dem ersten Drittel bleibt die harmonische Entwicklung stehen und die Melodik gewinnt die Oberhand mit komplexen Figurationen, einer dichten Textur und virtuosen Linien. Wenn anschließend die Akkordverkettung des Anfangs wieder einsetzt, wirkt die Bewegung wieder frisch, um bald erneut verändert zu werden. „Am Ende entmaterialisiert sich das Geschehen bis zum final cut“ (Eres Holz). Der Schicksalsfaden wird deutlich hörbar abgeschnitten. (Eckhard Weber)